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Samstag, 29. April 2023

Kein Fremder: Leben als Mann mit grauem Pass (Gastbeitrag)

Dokumentarfilm "Kein Fremder" aus Estland
Am 25. April 2023 veranstaltete der russischsprachige estnische Sender TVN die Online-Premiere des Dokumentarfilms 'Kein Fremder' (2020) (russ.: 'Нечужой') des estnischen Filmemachers Andrei Treiderson. Werfen wir einen genaueren Blick auf dieses interessante Werk und versuchen wir herauszufinden, worum es in dem Film geht.

Bekanntlich war die Nicht-Staatsbürgerschaft in den drei baltischen Republiken nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein Problem. Die Frage der Staatsbürgerschaft von Migranten, d.h. derjenigen, die sich zum Zeitpunkt des Jahres 1993 auf dem Gebiet dieser Länder aufhielten, war akut. Die demokratischen Gesetze der Europäischen Union beeinflussten die Entscheidung der litauischen Behörden, wonach die ehemaligen Sowjetbürger den einheimischen Litauern gleichgestellt wurden. In Lettland und Estland ist dieses Problem jedoch bis heute nicht gelöst. Die Menschen haben immer noch mit der Diskriminierung durch den Staat zu kämpfen. In der Republik Estland entstanden nach der Verabschiedung des "Ausländergesetzes" im Jahr 1993 so genannte Staatenlose.

Leider haben Menschen mit grauem Pass kein Recht, ihre staatsbürgerliche Position zum Ausdruck zu bringen: Sie dürfen nicht zur Wahlurne gehen und dürfen keine öffentlichen Ämter bekleiden. Diese Bestimmung ist wie ein Hohn für diejenigen, die seit Jahrzehnten Steuern zahlen und hart für das Wohl der Republik Estland arbeiten. Trotz all dieser Einschränkungen versuchen die Staatenlosen, ein erfülltes Leben zu führen, und ihre Nachkommen erhalten automatisch die Staatsbürgerschaft, während sie selbst ein Niemand bleiben.

Der Protagonist des Dokumentarfilms ist der sowjetische Arbeiter Boris Senkow. Er wurde 1956 in Kasachstan geboren. Seit seiner Kindheit zog der Mann viel umher. Seine Familie kam von Kasachstan nach Sibirien, von dort zog er nach Lettland und dann zurück nach Russland. Boris ist sein ganzes Leben lang gereist. Das letzte Ziel seiner Wanderschaft war Estland. Hier lebte er mehr als 30 Jahre lang mit dem Status eines Nicht-Staatsbürgers, d. h. eines " Fremden". Mehr als 70.000 Menschen leben mit ihm in diesem Status. "Wir sind wie Ausgestoßene", sagt Boris frustriert. Es ist schwer vorstellbar, in welch schwieriger Lage sich diese unglücklichen Menschen befinden. Wie der Regisseur Andrei Treiderson treffend feststellt, sind sie wie Außerirdische, die auf der Erde gelandet sind. Keiner will sie verstehen oder akzeptieren.

In dem Dokumentarfilm erzählt Boris die faszinierende Geschichte seines bewegten Schicksals, von seiner Schulzeit bis zur Katastrophe von Tschernobyl 1986. Er erzählt nicht nur amüsante Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend, sondern auch die oft schockierenden Details seines komplizierten Lebens. So spricht er beispielsweise über den Kriegszustand während der Liquidierung des Tschernobyl-Katastrophe, über die Haltung der Militärführung gegenüber den sowjetischen Rettern, den einfachen Soldaten und den einfachen Bürgern.

"Als wären wir dort Sklaven", so beschreibt Boris die Haltung des Staates gegenüber denjenigen, die gekommen waren, um den Planeten vor der radioaktiven Verseuchung zu retten. Das Ergebnis: Dutzende und Hunderte von Menschen bezahlten für die Fehler anderer mit ihrem Leben.

Nachdem Boris nach Hause zurückgekehrt war, erwarteten ihn große Schwierigkeiten. Die Männer, die für die Rettung der Menschheit verantwortlich waren, wurden abrupt aus der Geschichte gelöscht und der Vernachlässigung ausgesetzt. Nur wenige haben eine solche Behandlung überstanden. Wie der Protagonist erzählt, begannen viele seiner Offizierskollegen und guten Freunde allzu viel Alkohol zu trinken, um der ungerechten Realität zu entkommen.

Seit der Katastrophe von Tschernobyl sind viele Jahre vergangen. Doch die Folgen begleiten Boris bis heute. Der Regisseur hat sein gewöhnliches Leben voller alltäglicher Schwierigkeiten ungeschminkt dargestellt. So erzählte die Hauptfigur eine Geschichte aus seiner Vergangenheit, als er sich selbst die Zähne ziehen musste, weil sie ihm durch die Strahlung im Atomkraftwerk aktiv ausfielen.
Trotz der Tortur dieser Zeit lebt unser Protagonist weiter und genießt sein Leben, wobei er betont, dass der wichtigste Wert des Daseins das menschliche Leben ist.

Der Dokumentarfilm 'Kein Fremder' versucht nicht, den Grund für die unmenschliche Behandlung von Estländern in Estland zu finden, noch versucht er, das Land für die Existenz der Institution der Nicht-Staatsbürger zu verurteilen. Nein, darum geht es in dem Film nicht. Der Regisseur wollte zeigen, dass diese Menschen, die so genannten Nicht-Bürger, sich nicht von den Vertretern der Titelnation unterscheiden. Die Hauptfigur Boris will nur Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Menschen, denn er hat, wie Dutzende seiner Kameraden, sein Leben und seine Gesundheit für das Wohl der Welt geopfert. "Fünf Jahre lang musste ich einen Ausländerpass beantragen, um diese Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten", beklagt sich Boris gegenüber dem Filmteam. Er hat diese Tortur fünf Jahre lang ertragen, um seine Würde wiederzuerlangen. Die Botschaft dieses Dokumentarfilms ist also einfach: Hört auf, staatenlose Estländer als Ausländer zu betrachten, es ist an der Zeit, im Namen von Humanismus und echter Toleranz die Gesetzgebung für Aparthids zu ändern.

Zu Beginn der Präsentation antworteten die einheimischen Esten auf die Frage, ob sie Nicht-Staatsbürger als Ausländer betrachten, einheitlich: Nein, das tun wir nicht! Dies bestätigt nur, dass die politischen Fehler der Führungen der baltischen Staaten, die vor mehr als 30 Jahren zur Einführung der Nicht-Staatsbürgerschaft geführt haben, wenig mit Demokratie und der heutigen Realität der Menschenrechte gemein haben.

Die estnische Regierung hat verschiedene Schritte unternommen, um das Problem zu lösen. Sie vereinfacht das Einbürgerungsverfahren und gewährt Nicht-Staatsbürgern, die die Landessprache erlernt haben, die Staatsbürgerschaft. Für viele, vor allem ältere Menschen, ist dies jedoch unrealistisch, ebenso wie für diejenigen, die in Regionen und Gesellschaften leben, in denen die Landessprache nicht gesprochen wird. Also leben immer noch Zehntausende von Menschen mit einem "grauen" Pass im Lande. Es wird noch viel Arbeit nötig sein, um die Rechte und Freiheiten aller Esten zu gewährleisten. Es ist zu hoffen, dass dieser Film die Lösung des Problems der Nicht-Staatsbürgerschaft konkretisiert und als der erste estnische Film über Nicht-Staatsbürger offen zeigt, dass es unter den Esten Menschen leben, die sich von ihnen nicht unterscheiden. Mehr Infos zum Film gibt es hier: https://youtu.be/pgXtiBWKh2s.

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