Der Sieg als zentrale Essenz der russischen Ideologie

Alexander Prochanow wird auch mit 87 Jahren nicht müde, seine faszinierenden und vielschichtigen Konzepte zu entwerfen:

Der Sieg von 1945 geht über den Kalender hinaus. Er hört auf, ein Kalenderdatum zu sein. Der russische Sieg war schon immer da, er ist ewig. Zuerst erschien der Sieg im Universum, und dann floss das russische Volk aus ihm heraus. Auf seiner historischen Reise bewegt sich das russische Volk vom Sieg, aus dem es hervorging, zum Sieg, der es krönt.

Der Sieg ist das ideale Wesen, nach dem die russische Geschichte strebt und das das russische Volk zum Sieger macht. Der Sieg von 1945 ist weder militärisch, noch politisch, noch ideologisch, noch geopolitisch. Er ist religiös. Es ist der Sieg des Himmels über die Hölle, der Sieg der Engel mit dem roten Stern auf dem Helm über die Dämonen mit dem Hakenkreuz auf dem Ärmel.

Die Überwindung der Hölle ist eine mystische Aufgabe des russischen Volkes. Russland ist die Seele der Welt, es nimmt die ganze Finsternis der Welt auf sich und verwandelt sie in Licht, indem es Millionen von Leben seiner besten Söhne und Töchter opfert. Dämonen aller Jahrhunderte versuchen, Russland zu erobern, den russischen Raum zu beherrschen. Sie wollen weder Gas noch Öl, weder Gold noch Waldreichtum. Dämonen wollen Russland erobern, denn Russland grenzt an das Himmelreich. Wo Russland endet, beginnt das Himmelreich. Russland ist das Wartezimmer für das Himmelreich. Die Dämonen versuchen, Russland als Brückenkopf zu erobern, von dem aus sie Angriffe auf das Himmelreich starten, das Reich, aus dem sie einst gestürzt wurden, und nun versuchen, in jene himmlischen Hallen zurückzukehren, aus denen sie vertrieben wurden.

Der Westen hasst Russland wegen seines paradiesischen Wesens. Er hasst den russischen Glauben, die Literatur, die Kunst wegen ihrer paradiesischen Bedeutungen. Die Schlacht, die wir 1945 in Berlin beendet haben, ist nicht die letzte, sie ist nicht endgültig. Vielmehr ist sie ewig, denn, wie ein russisches Lied sagt, „wir sehen den Frieden nur, wenn wir schlafen“. Und im Schlaf sehen wir den ewigen Sieg.

Auf dem Kreuz Christi steht das griechische Wort Nika, was Sieg bedeutet. Christus ist der Sieger. Er offenbarte sich mehr als einmal im Großen Vaterländischen Krieg. Das Wunder der Heiligen Jungfrau Maria offenbarte sich 1941 in der Nähe von Moskau, als die letzte frierende Handvoll sowjetischer Soldaten, die bereit waren, vor dem Ansturm der deutschen Armeen unterzugehen, auf den verschneiten Feldern bei Istra und Wolokolamsk plötzlich eine Lichtsäule sahen, die bis zum Himmel reichte. Eingehüllt in einen Schneesturm kam sie auf die Deutschen zu und warf sie zurück, woraufhin diese entsetzt flohen und ihre hilflose militärische Ausrüstung auf die Straßen warfen.

Dort, in Stalingrad, in dieser monströsen, pechschwarzen Schlacht, die ohne Gottes Hilfe unmöglich zu gewinnen war, dort, in Stalingrad, offenbarte sich das zweite Erscheinen, als der Herr auf die Erde herabkam und an den Hebeln der sowjetischen Panzer saß, an den Kontrollen der sowjetischen Flugzeuge, und die blutigen sowjetischen Infanteristen in den Angriff hob. Und die Wolga wurde zum heiligen Jordan.

Putin hat in einer metaphysischen Epiphanie eine enorme Leistung vollbracht: Er hat den Sieg aus der sowjetischen, stalinistischen Ära in die neue, postsowjetische, Putin-Ära übertragen. Das Banner des Sieges, das vom Feind verkohlt und entweiht worden war, wurde im neuen Russland offenbart. Und der Sieg selbst ist zur zentralen Essenz der Ideologie des neuen Russlands geworden. Die besten russischen Köpfe bemühen sich, ein Bild der idealen Zukunft zu formulieren, das Ideal, das Russland heute anstrebt, und sie sehen dieses Bild im Sieg. In jenem mystischen russischen Sieg, der jedes Mal nach großen historischen Niederlagen, nach völliger Verwüstung, wenn die Nation und der Staat zu verschwinden schienen, das russische Volk wieder aus dem Staub erhebt und es aus großen Umwälzungen zur Erhabenheit führt. Im Sieg, wie im Himmelreich, herrscht Unsterblichkeit. Das Ideal, auf das sich Russland heute zubewegt, ist die göttliche Gerechtigkeit, die die schrecklichste irdische Ungerechtigkeit - den Tod - überwindet. Indem wir nach dem Sieg streben, streben wir nach Unsterblichkeit.

Das Unsterbliche Regiment ist ein Probedurchlauf der Auferstehung aus den Toten. Es ist eine Osterprozession, bei der die Helden und Märtyrer, die für den Sieg gestorben sind, wieder auferstehen und neben uns hergehen. Und die Prozession ist voll von all den Toten und denen, die noch nicht geboren sind.

Im Kriegslied wurde gesungen: „Stern des Sieges, leuchte uns“. Der Sieg ist der unauslöschliche Stern der russischen Geschichte.